Der Schattenmann

Maibom (André Jung) will Rieke (Fritzi Haberlandt) wie einst Orpheus seine Eurydike in eine gemeinsame Zukunft tragen. (Foto: Thomas Aurin) Maibom (André Jung) will Rieke (Fritzi Haberlandt) wie einst Orpheus seine Eurydike in eine gemeinsame Zukunft tragen. (Foto: Thomas Aurin)

Jossi Wielers großartige Inszenierung von Fritz Katers Stück „I’m searching for I:N:R:I (eine Kriegsfuge)“ am Schauspiel Stuttgart.

Kaum hat das Stück am Schauspiel Stuttgart seine Uraufführung erlebt, ist es schon zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden. Fritz Katers „I’m searching for I:N:R:I (eine Kriegsfuge)“ hat der Intendant der Oper Stuttgart, Jossi Wieler, als suggestives Erzähltheater über Schuld und Sühne, die Ohnmacht der Liebe und die mächtigen Schatten der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland meisterhaft inszeniert. Auf drei Zeitebenen kreist das Geschehen um die Beziehung zwischen dem Journalisten und Nazijäger Maibom, der mit einem Holzbein durchs Leben humpelt, und der rätselhaften Rieke, die in einem Berliner Immobilienbüro arbeitet. André Jung und die zerbrechlich-starke Fritzi Haberlandt betten dieses Paar auf seinem Weg durch die Jahrzehnte in eine verstörende Aura aus brüchiger Vertrautheit. Ihre Lügen und Halbwahrheiten halten sich die Waage. Als Rieke aus der gemeinsamen Wohnung verschwindet, während Maibom in Brasilien und Kuba unterwegs ist, beginnt seine Suche nach ihr. Sie führt ihn wie einst den Sänger Orpheus, der seine Eurydike zurückholen wollte, ins Reich der Schatten. Der Schatten deutscher Geschichte.

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Rieke, oder wie sie heißen mag, hat in Rom für die Nazis gearbeitet; das magere Mädchen Julie (Lucie Emons) sucht mit diffuser Angst vor der Lust im Kriegsberlin etwas Liebe und Geborgenheit; der blonde Vamp Milena (Manja Kuhl) klärt Maibom über die Umstände eines Leichenfunds in einer Villa in Bonn-Bad Godesberg auf  - und ein verklemmter junger Mann erzählt kurz vor der Wende von einem seltsamen Alten, der mit seinem Hund neben ihm wohnt. Alles hängt mit allem zusammen, muss der illusionslose Pragmatiker Maibom erkennen. Lüge und Wahrheit.


Kater arbeitet mit vielen Zeitsprüngen. Vor und zurück. Jeder führt zu einer eigenen Geschichte. Geschichten, die sich jedoch nicht zur großen schlüssigen Erzählung fügen. Sie behaupten ihren eigenen Stellenwert als Momentaufnahmen im großen Ganzen.


Die Protagonisten bewegen sich auf brüchigem Eis. Die Bühnenbildnerin Anja Rabes lässt sie sinnfällig über Schollen aus weißem Stein stöckeln, stolpern, balancieren, sich lieben – und straucheln. Im Hintergrund führt eine Treppe in den Untergrund. Was dort im Stil eines coolen Thrillers geschieht, sieht das Publikum auf einer großen Leinwand als Fiktion der Fiktion. Mathematisch ergäbe sich die Realität.

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Links und rechts der Steineiswüste können sich die Darsteller auf den nächsten Zeitsprung einstimmen. André Jung wechselt Perücke und Hut. Jossi Wieler spielt wie weiland Brecht mit offenen Karten: Gebt euch keiner Illusion hin.


Dazu passt der lakonische Grundton, den Fritz Kater gut dosiert mit trockenem Sarkasmus schärft. Und die durch den konsequenten Erzählstil erzeugte Distanz. Die Personen reden nicht mit-, sondern über einander; sie referieren ihr Handeln. Bis zum grandios grimmigen Monolog des alten Maibom, dem nur sein stinkender Hund geblieben ist. Wie der große André Jung den Hass auf Gott und die Welt herausschreit – und ihn im gleichen Atemzug relativiert, ist ganz großes Kino.


Kino? Nicht nur das. Fritz Kater wirft nicht nur einen durch und durch nüchternen Blick auf die Verhältnisse menschlichen Handelns – ohne über die Verhältnismäßigkeit zu moralisieren -; er schreibt auch noch ein Stück Kulturgeschichte, indem er sich mannigfaltig auf nach dem 2. Weltkrieg entstandene Literatur und Filme bezieht. Großartig! jow

Info:
Nächste Vorstellungen am 1., 6. und 7. April, 20 Uhr im Kammertheater.
Info und Karten: Tel. (0711)202090; www.schauspiel-stuttgart.de

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