Bruchstücke des Lebens

Eine ungewöhnliche Idee hatte der 52jährige österreichische Autor Robert Seethaler für sein neues Buch. Nach dem Publikumserfolg seines Trafikanten, der auch auf dem Theater Eindruck machte und verfilmt wurde, horcht der Autor jetzt auf die Stimmen der Toten einer Provinzstadt, die auf dem stillen Kirchhof, einem vormals unfruchtbaren Ackerboden, genannt das „Feld“, ihre letzte Ruhe gefunden haben. Ein alter halbblinder Mann sitzt Tag für Tag auf der morschen Friedhofsbank und meint, aus der Stille die Toten reden zu hören. Was erzählen sie? Er kann keinen Zusammenhang in dem Gemurmel ausmachen.
   Der Autor als Erzähler lässt die Toten zu Wort kommen. Bruchstücke ihres Lebens berichten sie. Was haben sie sich erträumt? Was wollten sie aus ihrem Leben machen? Was ist daraus geworden? Es sind nüchterne kleine Erinnerungsfetzen. Der Leser nimmt teil an einer Episode ihres Daseins. Einmal ist es ein Resümee, ein wunschloses unverklärtes Berichterstatten, ein ander Mal ein einseitiges Gespräch mit nahestehenden Menschen. Der Tod lässt eine unverblümte Rechenschaft über die eigenen Gefühle zu. Beziehungen werden von zwei Seiten beleuchtet. So entsteht allmählich der abgeschlossene Mikrokosmos des fiktiven Paulstadt.
   Aus dem Reich der Toten hört man keine Anklage. Auch kein Bedauern über nicht gelebte Möglichkeiten. Sie sind nicht weiser geworden durch ihr Sterben. Viele Geschichten bleiben schemenhaft. Leute, neben oder mit denen die anderen gelebt, die sie aber nie wirklich kennengelernt haben. Der Erzähler gibt ihnen seine Stimme und eine posthume Persönlichkeit.
   Einer wollte mal weg von Paulstadt, hat aber nie ernsthaft den Versuch unternommen. Sein Freund verschwindet ohne Abschied auf Nimmerwiedersehen von einem Tag auf den andern. Er kommt nicht einmal zur Beerdigung des andern. Wohl weil er vor ihm gestorben ist, räsonniert dieser aus dem Grab heraus und nimmt dem Freund übel, dass er ihm zuvorgekommen ist. So endet der Totenreigen. Der alte Mann des Anfangskapitels erhält jetzt im Schlusskapitel seinen Namen. So wie alle anderen Kapitel mit dem Namen des Verstorbenen überschrieben sind.
   Manchmal malen traurige kleine Episoden ein Bild vom Alltag, von ganz unspektakulären Geschehnissen, bis zu den Katastrophen in der Geschichte der Stadt. Ein Spielsüchtiger kommt zu Wort. Alles hat er dieser Sucht geopfert, seine Liebe, seine Bleibe, seinen Job. Ein Jugendlicher, der nach einem  Verkehrsunfall stirbt, erkennt kurz, wie das Leben ohne ihn wohl weitergeht. Ein Selbstmörder geht ins Wasser. Eine verhärmte Alte erinnert ihre Flucht mit der kleinen Tochter. Der Geistliche fackelt in religiöser Umnachtung seine Kirche ab. Der korrupte Bürgermeister lässt seine Handlungen, Taten und Untaten, ohne Bedauern Revue passieren.
   Die Sprache des Autors ist literarisch, sie vermag es, den Leser zu fesseln, auch beim Abhandeln wenig bewegender Bruchstücke. Gerade das Normale, das Einheitsgraue gibt dem Buch seinen Reiz und seinen literarischen Wert. Vielleicht sollte der Leser ein zweites Mal zu dem Buch greifen. Er erkennt dann Bezüge, die er beim ersten Mal überlesen  hat. Die unvermittelte Abfolge der 29 unterschiedlichen Schicksale nacheinander macht das Seethaler-Buch nicht zu einer einfachen Lektüre.
 
   Robert Seethaler, Das Feld, Hanser Verlag, 240 Seiten
 
Helga Widmaier
 
 
 
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Im Bann der Bilder

Zwei Bilder gehen mir nicht aus dem Kopf. Auf dem einen sieht mich eine anmutige junge Frau mit ihren dunklen Augen sehr ernst an. Sie ist eine der „Stolen Girls“, der 276 Schülerinnen, die im April 2014 bei einem Überfall der islamistischen Terrororganisation Boko Haram auf das Dorf Chibok im Nordosten Nigerias entführt worden sind. Waren kann man nicht schreiben, weil sich bis heute Tausende Frauen in der Knechtschaft der Terroristen befinden. Dem Mädchen auf dem Faltblatt einer Ausstellung, die im Herbst dieses Jahres im Stadthaus Ulm zu sehen war, ist die Flucht gelungen. Mit einem Kind ihrer Vergewaltiger unter dem Herzen.

     2015 waren der ZEIT-Reporter Wolfgang Bauer und der Fotograf Andy Spyra nach Nigeria gereist, um mit Frauen und Mädchen zu sprechen, die flüchten konnten. Die Fotochefin der Wochenzeitung, Ellen Dietrich, hat Spyras Aufnahmen als „unüberhörbares Statement“ bezeichnet: „ecce homo – siehe, der Mensch“.

     In der zweitgrößten Volkswirtschaft Afrikas macht der in Den Haag mit seiner Hauptverwaltung beheimatete und global aufgestellte Mineralölkonzern Shell nach wie vor satte Gewinne, seit er Mitte des letzten Jahrhunderts im Nigerdelta mit der Erdölförderung begonnen hat. Und es nachhaltig mit der Ölpest verseucht hat, wie Kritiker klagen. Aber das Geld sprudelt wie gesagt im christlichen Süden und nicht im moslemischen Norden. Mammon geht vor Moral, wie die zaghaften Versuche der Regierung zeigen, die Terroristen zu zügeln. Pech gehabt, in der falschen Gegend geboren, könnte man zynisch shellmäßig zu der jungen Frau sagen. 

     Das andere Bild kommt dem ersten erschreckend nahe. Der syrische Cartoonist Hussam Sarah zeichnet den Santa Claus, wie er mit seinem Schlitten durch den nächtlichen Himmel an der hellen Erde vorbeifliegt. Nur wird sein Gefährt von zwei Düsenjägern gezogen und seine Geschenke fallen als Bomben hinab. Leider besteht kein hinreichender Grund zur Hoffnung, dass sich an diesem Bild bis in einem Jahr etwas ändern könnte. (Zur Zeit ist es in der Ausstellung „IDENTITY“ des Kunstvereins KISS auf Schloss Untergröningen zu sehen.) 

     Nach den Attentaten in Schulen und Kirchen in den USA hat ein Sprecher des NRA-TV (also des Senders der National Rifle Association) behauptet, hätte es vor fünf Jahren schon bewaffnete Kräfte an Schulen gegeben, wäre alles viel sicherer. Der Präsident dieses Landes hat empfohlen, jeden Lehrer mit einer Knarre auszustatten. Das nennt man Bildungssicherheit nach Trumps Art. Und vielleicht gleich jeden Rabbi, Pastor und Imam ebenfalls? Dann wäre der Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, vielleicht noch am Leben. Er ist am 24. März 1980 von einem gedungenen Soldaten ermordet worden, als er in einer Krankenhauskapelle eine Messe hielt. Genug von den unterirdischen Moralvorstellungen dieses Präsidenten.

      Ein bisschen Weihnachtsbotschaft soll schon noch sein. Welche Weisheit hat der Philosoph Nietzsche für uns parat? „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“ Und welche Antwort gibt der charismatische neue Dirigent des SWR Symphonieorchesters, Teodor Currentzis auf die Frage „Warum machen wir Kunst?“ „Weil wir die Welt erschaffen wollen, in der wir leben.“ Ein guter Vorsatz für das neue Jahr 2019. Machen Sie mit!

 

Wolfgang Nußbaumer 

     

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