Verfehltes Leben

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Verfehltes Leben
Sie träumt von einer großen Karriere als Tänzerin. Tagsüber unterzieht sie sich dem harten Training ihrer Tanzlehrerin.
Die (Mary Wigman in Dresden) will aus den individualistischen Ambitionen ihrer Elevinnen ein künstlerisches Gesamtkunstwerk formen. Tamara Danischewski genießt das Leben im Rampenlicht. Abends tanzt sie im Kabarett. Sie heimst Ovationen ein und verteilt Autogrammkarten an ihre Verehrer. Das ist ihre Welt. Ihre Mutter näht ihr die Tanzkleider und wacht über den Ruf der jungen Frau. 
 
Otto Dix porträtiert sie 1933. Im hochgeschlossenen züchtigen Kleid mit einer Iris in der Hand steht sie stundenlang Modell. Mit einem angedeuteten Lächeln will er sie malen. Draußen ist Krieg. Immer repressiver wird das Leben für den Maler, der sich der wahrhaftigen Darstellung der Wirklichkeit mit ihrer grausamen Hässlichkeit verpflichtet fühlt. 
 
"Still halten" ist der Titel, den die Autorin Nina Jäckle in ihrer großartigen Prosaerzählung dem verfehlten Leben ihrer Großmutter gegeben hat. Die Gegenwart von Tamara in einem großen abgeschiedenen Anwesen besteht aus Erinnern und Bedauern. Der Rückblick schmerzt. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, das dem Tanz gewidmet gewesen wäre, macht sie unglücklich. Ihr Leben hat am Scheideweg die falsche Richtung genommen. Sie hat sich in einen Mann verliebt, der ihr Reichtum und Sicherheit geboten hat. Dafür musste sie das Tanzen aufgeben. 
 
Die Mutter will in dem Mann ein Geschenk der Vorsehung in dieser schwierigen Zeit sehen, der Mutter und Tochter in den sicheren Hafen geführt hat. Für Tamara wird das Leben nach der kurzen rauschhaften Verliebtheit immer trostloser und einsamer. Ohne Aufgabe nutzlos blickt sie auf ihr vergeudetes Leben. Ähnlich wie das nichtsnutzige Leben ihres Jagdhundes, der die Beute seines Herrn nicht apportiert, sondern die erlegten Hasen vergräbt. Ihrem Abrechnungsbuch vertraut sie Bruchstücke ihres eines höheren Sinnes beraubten Lebens an. Der verstorbenen Mutter macht sie Vorwürfe. „Du hättest es besser wissen müssen für mich, auch wenn uns die Vernunft das Leben gerettet hat, du hättest es besser wissen müssen, als es noch Optionen gab,…“
 
Wie sie beim Modellstehen still gehalten hat, so hält sie still in ihrem Leben ohne Bewegung. Nur die Gedanken kreisen um die akrobatischen Sprünge ihrer Jugend und verhaken sich wehmütig in der ausweglosen Sackgasse von Alter und nicht genutzten Möglichkeiten. Die Erzählerin entfaltet das Leben von Tamara in einem gekonnten Spannungsbogen. Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen fügt sich die Biographie für den Leser zusammen.
 
Info: Nina Jäckle, Still halten. Klöpfer & Meyer 2017
 
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