Sperrige Kiste Empfehlung

Sperrige Kiste Fotos: Thomas Aurin

Der Name bürgt für Langsamkeit von höchster Qualität. Das heißt Entschleunigung mit Niveau, geistvolles Theater mit Musik und kauzigem Witz: Christoph Marthaler. Jetzt lässt er das Publikum der Münchner Kammerspiele jubeln.

   Endlich mal wieder, ist man geneigt zu lästern. Denn die Intendanz von Matthias Lilienthal hat sich bis dato ziemlich sperrig angelassen. Vor diesem Erfahrungshintergrund ist der Jubel über die Inszenierung „Tiefer Schweb“ verständlich. Tatsächlich war ein Marthaler-Abend selten dermaßen sperrig. Das liegt am Thema. Eine Expertengruppe aus den Anrainerstaaten des Bodensees versammelt sich an dessen tiefster Stelle in einer Unterwasserkammer, um über ein schwimmendes Dorf mit Flüchtlingen genau über ihnen zu beraten. Flüchtling zu sein, ist nicht lustig; über sie zu befinden ebenfalls nicht. Die Migranten treten nur indirekt in Erscheinung, die in die Tiefe abgeordneten Beamtenseelen umso deutlicher.

   Duri Bischoff hat ihnen aus (bestimmt) altdeutscher Eiche eine asymmetrische Amtsstube gezimmert, in deren Ecke ein großer Kachelofen steht. Altes Ordnungsdenken trifft auf die Herausforderungen der Gegenwart. Das muss man erst mal verkraften. Deshalb hört man zunächst nur ein Blubbern. Sind es Fische, Luftblasen aus der Kammer oder blubbern die zwei Frauen und sechs Männer, die sich am Tische anschweigen?

   Wer jetzt schon auf Gesang hofft, muss sich gedulden. Zunächst verkündet der Vorsitzende die Richtlinien der Begegnung. In bestem Amtsdeutsch – natürlich. Woraufhin sich alle Beteiligten ebenso markant in Positur werfen. Es gockelt und gackert auf dem Mist.

   Mist riecht nach ländlicher Heimat. Und um deren Verlust geht es, oben wie unten. Weshalb heimatlicher Harmoniegesang fortan aus den geübten Kehlen dringt. Ins eingespielte Marthalerteam mit Raphael Clamer, Olivia Grigolli, Ueli Jäggi und Jürg Kienberger (er ist auch der musikalische Leiter) fügen sich Hassan Akkouch, Walter Hess, Stefan Merki und Annette Paulmann nahtlos ein.

   Im gemeinsamen Singen nähern sie sich einander an. Fast. In die an einer Hammondorgel ganz sanft intonierte Procol Harum-Ballade „A whiter shade of pale“, mischt sich ein weiterer Hammond-Mann ein – und noch einer. Jeder will den anderen übertrumpfen. Vor der Kakophonie flieht die romantisch verträumte Annette Paulmann, um dann umso vehementer „Die Fischerin vom Bodensee“ zu plärren. Die Mannsbilder haben wieder einmal gezeigt, wo der Hammer hängt.

   Im Toilettenwesen haben die Männer ebenfalls – nun ja – die Nase vorn. Die Urinale sind der neueste Schrei in der Tiefe – und ferner hervorragend als Megaphone geeignet. Außerdem kann mann beim endlosen Pinkeln mit dem Nachbarn entspannt über das Denken und Wollen philosophieren, auch wenn dauernd aus dem Kachelofen krabbelnde Kolleginnen und Kollegen an ihnen vorbeimarschieren. Es ließe sich noch viel registrieren an allerlei skurrilem Nonsens, wie Wassertests nach Weinprobenart. Dazu öffnet sich ab und an die Kassettenwand zu einem gleißend hell ausgeleuchtetem High-Tech-Laboratorium. Und der deutsche Libanese Akkouch tanzt einen von den andern fachmännisch genau beobachteten Schuhplattler. Irre!

 

   Zu fortgeschrittener Stunde und unter dem Eindruck fortschreitender bakterieller Verseuchung des Bodenseewassers versammelt sich die Truppe schließlich zu einem übernationalen landsmannschaftlichen Treffen. In der Not muss man zusammenhalten. Ob’s hilft? Man kabbelt sich noch ein bisschen, zieht die Bayern (!) durch den Kakao und singt ein Heimatlied.

   Das war’s. Anschließend werfen alle ihre Trachten in den Kachelofen; in der Unterwäsche sind alle gleich. Eine Kreissäge singt – und im Stacheldraht, der in die sinnlos verbarrikadierte Kammer dringt, holen sich alle blutige Nasen. Zwischen oben und unten gibt es keinen Unterschied mehr. Mit Blumensträußen in den Händen treten die zerrupften Expertinnen und Experten an die Rampe und stimmen ein Trauerlied an: „So nimm denn meine Hände.“ Ein guter Schluss. Wer’s lustig haben will, ist mit dem abgründigen Programmtext bestens bedient.

Wolfgang Nußbaumer

 

Info: Weitere Aufführungen sind am 13., 26. und 27. Juli, jeweils 19.30 Uhr.

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