Das Rätsel der Scheibe gelöst?

Der Ellwanger Apotheker Richard Kamm hat Jahrzehnte über den „Diskos von Phaistos“ geforscht.


20151109 113116Vor 56 Jahren ist der Ellwanger Apotheker Richard Kamm in dem Buch „Götter, Gräber und Gelehrte“ auf den legendären „Diskos von Phaistos“ gestoßen. Kamm, wegen der Geburt seiner ersten Tochter allein zu Haus, hatte im heimischen Bücherschrank gestöbert. Von Stund an ließ ihn die runde Scheibe mit der spiralförmig angeordneten Schrift aus Kretas Erde nicht mehr los. Jetzt hat der 82-jährige eine umfassende Analyse der über 3500 Jahre alten rätselhaften Zeichen veröffentlicht. Für ihn „eine plausible Deutung“.  „Jeder der im archäologischen Museum von Heraklion den einmaligen ‚Diskos von Phaistos’ sieht, ahnt augenblicklich, dass er einem ganz wichtigen und außerordentlichen Basisobjekt der abendländischen Geschichte gegenübersteht“. Mit dieser Empfindung eröffnet Richard Kamm die Einleitung zum Ergebnis seiner Jahrzehnte dauernden Forschungsarbeit. Nicht von ungefähr hat er sie „der europäischen Geschichte“ gewidmet. Was hat ihn an dieser mit Stempeln beidseitig beschriebenen Scheibe aus gebranntem Ton so fasziniert, dass er sogar seine vielen Nachtdienste in der Apotheke in der Marienstraße in Ellwangen dazu genutzt hat, deren bildhafte Zeichensprache zu entziffern?

 


Am 3. Juli 1908 hat das Ausgrabungsteam eines italienischen Archäologen den Diskos in einer Palastanlage aus minoischer Zeit auf Kreta ans Tageslicht und damit in den Fokus der Forschung befördert. Diese trat jedoch über Jahrzehnte quasi auf der Stelle und kam letztlich über das Stadium der Spekulation nicht hinaus. Denn weder auf der Insel noch irgendwo anders am östlichen Mittelmeer gab die Erde eine vergleichbare weitere Scheibe frei, auf der sich Kuhfuß und Kriegerkopf, Dolch und Beil, Frau und Kind, Haube und Hodensack, um nur einige der Bildzeichen zu erwähnen, spiralförmig von außen nach innen zu einer Botschaft addieren.


Auf nur 242 Zeichen, die sich in der Berechnung von Richard Kamm aus rund 55 verschiedenen Vorlagen addieren, lässt sich kein belastbares Entzifferungssystem aufbauen. Darauf hat unter anderen der 2005 in Würzburg gestorbene Philologe und Indogermanist Prof. Günter Neumann hingewiesen, mit dem der Ellwanger Pharmazeut eng zusammengearbeitet hatte. Der aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend stammende Diskos sei das „einzige und einmalige Denkmal“, das solche Schriftzeichen trage. Dessen Text sei darüber hinaus zu kurz für „statistische Beobachtungen“. Weder Fundort noch Beschaffenheit der Scheibe ließen „stichhaltige Schlüsse auf den Inhalt des Textes zu“.


Selbst Neumanns Befund hat den Quereinsteiger von der Ostalb nicht ruhen lassen. „Man muss das richtige Axiom haben“, hat Kamm erkannt. Als Naturwissenschaftler den Gesetzmäßigkeiten „allgemeiner Logik folgend“ war er davon überzeugt, „dass es eine einzig richtige, der Wahrheit entsprechende Interpretation geben muss“.  An griechischen Ursprüngen hatte sich die vergleichende Sprachwissenschaft gefrustet abgearbeitet. Erst dann hat sie sich, wie Kamm erläutert, ans Altindische und damit an die „indo-europäische Sprachenfamilie“ herangewagt. In dieser linguistischen Verwandtschaft sah und sieht er den Schlüssel zum Interpretationserfolg.


Bis dahin musste Hobbyforscher Kamm jedoch einen weiten Weg zurücklegen. Zeitlich und im Wortsinne. Ein am 18. Mai 1968 aufgenommene Fotografie auf der sechsten Seite seines mit römischen Zahlen nummerierten Prologs verweist auf diese Dimension. Es zeigt seine verstorbene Frau zusammen mit Alexandros Venetikos vor der landschaftlichen Kulisse von Phaistos. In seinem Text zum Bild schreibt Kamm über den Mann mit der schwarzen Schirmmütze: „Seit frühester Kindheit war Alexandros mit Phaistos verbunden, er kannte den Ausgräber, half bei allen Arbeiten und war schließlich bis zu seiner Pensionierung als unersetzbarer Phylax (Wächter) tätig.“


Der schwäbische Pharmazeut fand in enger Korrespondenz mit namhaften Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen im Lauf der Jahrzehnte zu der Überzeugung, „dass die Sprache des Diskos mit dem sogenannten ‚Minoischen’ der kretischen Palastzeit eng verwandt, wenn nicht gar identisch ist“.  Wie Kamm darlegt, müsse es sich um einen Zweig jener großen europäischen Sprachenfamilie handeln, die sich ab dem dritten vorchristlichen Jahrtausend von Nordosten her über das östliche Mittelmeer ausgebreitet habe.


In seiner profunden Analyse von Morphologie (Art), Rhythmus und Syntax der als offene Silbenschrift identifizierten Zeichen stützt er sich deshalb auf die Veden, frühe religiöse Gesänge des Hinduismus. Und erkennt überraschende Parallelen. Kamm entdeckt bei seiner aufwändigen Puzzlearbeit, der komplexen Materie wegen, kurz gesagt, ein der Zahl und Anordnung der Diskoszeichen zugrunde liegendes magisches Zahlensystem, das auf einen kosmologischen Bezug des Textes verweist. Da war der Schritt nicht weit, diese Erkenntnis und weitere Analogien zum Altindischen zur Analyse der sprachlichen, religiösen und soziologischen Verhältnisse im alten Kreta heranzuziehen und auf dieser Basis zu versuchen, die Bildzeichen zu entziffern.


Sein mit einem Fragezeichen versehener Schluss zur Verwendung des rätselhaften Fundes lautet: „Die Scheiben wurden im Rahmen eines Ritus beschrieben, bedruckt und ungebrannt per Wurf ins Meer oder in eine Grube geworfen, wo sie von den Göttern gelesen, vereinnahmt und dadurch aufgelöst wurden.“


Warum hat aber nur eine dieser Scheiben mit kultischen Rezitationen den Ritus überlebt? Für den Diskosexperten von der Ostalb reiner Zufall. Er vermutet, dass bei einem Brand des Palastes die Scheibe ebenfalls gebrannt worden ist. Sonst wüssten wir Heutigen nicht, mit welchen in weichen Ton gestempelten Worten (als Teil der Inschrift) sich einst die alten Kreter an die Götter wandten: „Herrin der Nachkommenschaft Mutter du möchtest schützen“. Vielleicht könnte diese Mutter, der vor Jahrtausenden Angehörige der minoischen Hochkultur gehuldigt haben, heute in Zeiten der Krise das europäische Haus schützen, sinniert der Apotheker. Immerhin reicht eine seiner Wurzeln, wie er nachgewiesen hat, bis ins alte Kreta zurück.

Info: „Der Diskos von Phaistos“ von Richard Kamm ist für 22 Euro bei „Amazon“ erhältlich
         

Letzte Änderung amSamstag, 30 Januar 2016 10:53
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