Glücklich im "Chelsea Hotel" Empfehlung

Das "Chelsea Hotel" als Gesamtkunstwerk. Das "Chelsea Hotel" als Gesamtkunstwerk. Foto: Bettina Stöß

What a beautiful noise – wer sich vor der Aufführung von „Chelsea Hotel“ im Kammertheater des Schauspiels Stuttgart mit Ohrstöpseln versorgt hat, ist selbst Schuld. Hat doch der musikalische Springteufel Hanna Plaß zusammen mit Max Braun aus dieser Hommage an das legendäre New Yorker Szenehotel einen hochexplosiven musikalischen Abend arrangiert, der einem Christoph Marthaler zur Ehre gereichen würde. 

      Leonard Cohen hatte im „Chelsea“ eine kurze Affäre mit Janis Joplin, die er in einem seiner bekanntesten Songs verarbeitet hat; Arthur Miller, der es als eine „Bastion des Surrealen“ empfand,  hat dort logiert und etliche andere große Literaten, Musiker Schauspieler, bildende Künstler und Fotografen, Götter und Gauner. Patti Smith, die „Godmother of Punk“, hat das Hotel als „Puppenhaus in der Twilight Zone“ beschrieben, „mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg.“

     Zusammen mit dem Musiker, Schauspieler und Dramatiker Sam Shepard hat sie einst den abgedrehten Einakter „Cowboy Mouth“ geschrieben, aus dem sich Regisseur Sébastien Jacobi für seine Inszenierung bedient hat. Neben Textsplittern von Walt Whitman, Dylan Thomas, William S. Burroughs oder Edward Bellamy, in denen das widersprüchliche Lebensgefühl der Neuen Welt im Allgemeinen und der Beatgeneration im Besonderen spürbar wird.

     Zu Beginn steigt ein mit einer Taschenlampe bewaffneter Typ in einer Art Raumanzug die Treppe im dunklen Zuschauerraum herunter, leuchtet umher, grummelt vor sich hin, ziemlich angefressen darüber, wohin es ihn verschlagen hat: „Alles Dekoration.“ Nichts wirklich, ein Albtraum. Bis er den Glitzervorhang zur Seite zieht – und den Blick freigibt auf seltsam gekleidete Typen, die aus dem Bühnennebel auftauchen. Er zieht noch weitere Showvorhänge auf, hinter denen die von Patti Smith beschriebenen kleinen Universen zum Vorschein kommen. Wie überlebt man dort am besten? Die Handlungsanleitung stammt von der „Velvet Underground“-Sängerin Nico: „Wrap Your Troubles in Dreams“ – packe deine Sorgen in Träume ein.

     Was folgt ist traumhaft. Fesselnd, prickelnd, total abgefahren, tief traurig, zu Herzen gehend, urkomisch, skurril, anarchisch, frech erotisch, perfekt musikalisch – schlicht: wunderbar. Wie schaffen es Manuel Harder, Marietta Meguid, Hanna Plaß, das Theaterurgestein Elmar Roloff und Birgit Unterweger zusammen mit den drei Musikern Max Braun, Joscha Glass und Johann Polzer den Traum als Wirklichkeit und die Wirklichkeit als Traum erscheinen zu lassen? Ganz einfach: Sie lassen den Geist des Chelsea Hotel aus der Wunderlampe; diesen Geist, der alles durchdringt bis in die kleinsten Wahrnehmungsritzen, der berauscht und ernüchtert, entflammt und humorlos löscht, der die Augen seherisch öffnet – und sie angesichts so viel durchschnittlicher, schnöder Welt, wieder gnädig verschließt.

     Dieser Geist manifestiert sich in den Song-Wiederentdeckungen und den umwerfend raffinierten Arrangements, in den Begegnungen und Miniszenen, die das Auge im Netz von historischen Filmsequenzen auf mehreren Etagen anlocken, während sich auf der Bühne diejenigen, die gerade nicht durchs Hotel streifen, mit allem, was sie sind und haben die Seele aus dem Leib singen. In „Dirt“ der „Stooges“ wandelt Elmar Roloff als beinharter Bluesrocker in den Fußstapfen von Iggy Pop; Manuel Harder lässt den „Space Clown“ (komponiert von der Megamusiker-Hoffnung „Jobriath“, der 1983 im Hotel an AIDS gestorben ist) exzessiv leiden, nachdem er das Kostüm des „Lobster Man“, des Hummer-Mannes, aus Shepards/Smith’ „Cowboy Mouth“ abgelegt hat; und Birgit Unterweger löst mit ihrer Interpretation von Cohens „Chelsea Hotel“, die in ihrer langsamen Monotonie wie ein kalter Hauch von der 1. Etage weht, wohliges Frösteln aus.

     Ja, man könnte über jeden Song ins Schwärmen geraten, schwärmen über das Gesamtkunstwerk dieser phänomenalen Inszenierung, zu deren Gelingen auch Julian Marbachs stimmige Bühnenrumpelkammer und die wunderlich-schrägen Kostüme von Cinzia Fossati beigetragen haben. Den grenzenlosen Jubel belohnte der Superstar Hanna Plaß zusammen mit den drei Musikern „unplugged“ mit einem Song, in dem ihre an Joan Baez und Kate Bush erinnernde Stimme unverstärkt nochmals ihre ganze Modulationskraft ausspielen konnte – bis er im Lachen glücklicher Erschöpfung erlöschte.

                                John Wolf   

 

Info: Weitere noch nicht ausverkaufte Aufführungen am 19./20./24./26.10., jeweils 20 Uhr im Kammertheater; Karten unter (0711)202090 oder online über www.staatstheater-stuttgart.de

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