Fantastische Selbsterfahrung Empfehlung

Versammelt zu mehr oder weniger löblichem Tun -  Solisten, Statisten, Tänzer und der Staatsopernchor. (Foto: A.T. Schaefer) Versammelt zu mehr oder weniger löblichem Tun - Solisten, Statisten, Tänzer und der Staatsopernchor. (Foto: A.T. Schaefer)

Christoph Marthaler feiert mit „Hoffmanns Erzählungen“ an der Staatsoper Stuttgart ein  herrliches Musiktheaterfest.

Die geniale theatrale Erfindung der Langsamkeit durch Christoph Marthaler macht auch vor Jacques Offenbach nicht halt. Das ist gut so. Sehr gut. Satte vier Stunden dauern „Hoffmanns Erzählungen“ in der Staatsoper Stuttgart. Doch sie vergehen wie im Fluge, wie im sanften Dahingleiten eines Albatros.Mann lässt sich Zeit. Allein und in der trinkfreudigen Runde. In ihr vergeht die Zeit sowieso, ohne dass man sie wahrnimmt. Weil der zunehmend umnebelte Verstand neben dem Stundenglas auch den Raum vergisst. Jenseits von Raum und Zeit erstreckt sich das Land Fantasia. Dort halten sich die vom Geist in der Flasche beflügelten Geister am liebsten auf. Hier bin ich Mann, hier darf ich’s sein. Würde sein  Seelenfrieden in diesem Reich der Fantasie nur nicht durch des Mannes liebste Phantasmagorie gestört. Denn immer ruft und lockt das Weib. Beim Herrn Hoffmann sind das die Damen Olympia, Antonia, Giuletta und Stella. Und seine Muse. Ermuntert von den Saufkumpanen erzählt er von seinen Versuchen, Liebe, Lust und Leidenschaft unter einen Hut zu bekommen.

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Herausgekommen ist unter Marthalers Regie ein vom Staatsorchester unter der Leitung von Sylvain Cambreling mit federndem Esprit in Bewegung gehaltener Selbsterfahrungstrip der ganz besonderen Art. Anna Viebrock hat sich für den Ort des Geschehens von der Architektur des Circulo de Bellas Artes in Madrids Zentrum inspirieren lassen. Dieser hat auch Regisseur und Dirigent fasziniert, als sie ihn vor ihrer ersten Inszenierung der Offenbach-Oper für das Teatro Real Madrid besucht hatten. „An diesem Ort herrschte die vollkommene Gleichzeitigkeit geistiger und künstlerischer Produktivität: Bildung, Erfindung, Skizze, Entwurf, Ausführung“, erinnert sich Marthaler.     Und so hat die Bühnenbildnerin einen Ort geschaffen, der alles zugleich ist; Zeichensaal für Aktstudien mit mehreren sich für unterschiedliche Posen abwechselnden Modellen; Café, Bar, Büro und Billardsaal. Ein Ort, an dem sich ironieschwangere Romantik mit surrealen Motiven und Zitaten zu einer herrlich bizarren amour fou vermählt. Ein Ort, durch den der wie immer trefflich singende und spielende Staatsopernchor – natürlich ganz langsam -  zur Lust des Publikums wandeln und handeln kann.

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Von dieser Lust am intelligenten Opernspaß scheinen auch die Protagonisten fast zu bersten. Keineswegs selbstverständlich, weil für die erkrankte Muse in Gestalt des Hoffmannfreundes Niklas (Sophie Marilley) Hannah Esther Minutillo vom Teatro Real und für die Rolle der Maschinenfrau Olympia (Ana Durlovski) Daniella Fally von der Wiener Staatsoper kurzfristig eingesprungen waren. Beide Sopranistinnen sangen mit Verve, feiner Koloratur und überzeugender Darstellung. Gleiches gilt für Mandy Fredrich als Sängerin Antonia und Simone Schneider als Kurtisane Giuletta.
 
Anna Viebrock hatte beide sich auch in ihrer Gestalt ähnliche Damen in blaue Kleider gesteckt. Sind womöglich alle angehimmelten Frauen Projektionen der Sehnsüchte des Dichters? Sie sind’s wohl. Insofern spiegelt sich der Erzähler selbst in ihnen. Vielleicht hat er deshalb der auf ihn angesetzten kessen Hure sein Spiegelbild vermacht. Weil er von sich selbst genug hatte? Oder weil sein gedemütigtes Ego im Weltschmerz versank?     Marc Laho lässt als Hoffmann stimmlich und darstellerisch alle diese Facetten funkeln. Ihm steht sein dämonischer Gegenspieler, der Bariton Alex Esposito, in nichts nach. Der Böse ist immer und überall, um Hoffmanns Liebesleben zu sabotieren. Als Lindorf will er ihm die Sängerin Stella (verkörpert durch die Choreografin Altea Garrido) ausspannen; als Coppelius macht er der mechanischen Dame, die ihr Schöpfer Spalanzani (schön knorrig sinister der Schauspieler Graham F. Valentine) als seine Tochter ausgibt, den Garaus; als Doktor Mirakel sorgt er dafür, dass sich die Sängerin Antonia gegen die Liebe und für die Kunst entscheidet, obwohl das Singen die kranke Frau wie zuvor schon ihre Mutter (Maria Theresia Ullrich) das Leben kosten wird;  das bricht auch ihrem Vater Krespel (stark an Gestalt und Volumen der Bassbariton Henry Waddington) das Herz. Und schließlich bringt er als Dapertutto den liebestollen Hoffmann dazu, Giuliettas eifersüchtigen Liebhaber Schlemihl ( der Bass Eric Ander) ins Jenseits zu befördern.

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Das Jenseits bleibt jedoch dieseits. Weil alles nur Fiktion ist, surreal – also über die Maßen wirklich. Grotesktänzer stürzen, taumeln, winden und verrenken sich, purzeln über und lauern unter Tischen. Hoffmanns Muse versucht alles, um ihn vor emotionalem Unheil zu bewahren; doch der bleibt lieber von allen guten Geistern verlassen. Nur nicht von den alerten dienstbaren; die sind in der omnipräsenten Gestalt des Tenors Torsten Hofmann als Diener aller Herren allgegenwärtig.      Nicht zu vergessen die traumhaften Du-, Terz- und andere –ette; die Ohrwürmer wie die Barkarole oder die Ballade von Klein-Zack – in Summe diese ganze süffig-sinnliche Melange aus Offenbach-Melodien und einer in sich schlüssigen Librettocollage nach Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, die Marthaler und Cambreling zu einem herrlichen Musiktheater-Fest zusammengepuzzelt haben.        jow   

Info:
Nächste Aufführungen am 15., 23., 30. April und 4. Mai.; Karten unter Tel. (0711) 202090 sowie www.oper-stuttgart.de/hoffmann
      
          

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