Wo der Wahnsinn regiert Empfehlung
- geschrieben von -uss
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Ernst Stötzner und Lina Beckmann.
Fotos: Monika Rittershaus
„Wahnsinn“. Wahnsinn in mehrfacher Hinsicht. Wahnsinn die Darstellungswucht der Lina Beckmann. Wahnsinn die Geschichten des Theben-Marathons „Anthropolis“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg.
Was sich in „Prolog“, „Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, „Iokaste“ und „Antigone“ in der spektakulären Bearbeitung von Roland Schimmelpfennig ereignet, geht tief unter die Haut. Verblendung durch überhebliche Ignoranz, reines Machtstreben und (a)moralisches Kalkül. In der Summe sehr heutig. Dies schlüssig darzustellen, steht der experimentierfreudigen Regisseurin Karin Beier ein eminent spielfreudiges Ensemble zur Verfügung.
Sinnlich von Anfang an. Fesselnd schon die Erzählung vom großen weißen Stier, der mit dem Mädchen Europa auf dem Rücken im weiten Meer verschwindet. Das Publikum erlebt eine lebhafte Hochzeitsfeier mit Menschen und Göttern; schließlich müssen die Voraussetzungen für die Geburt derjenigen geschaffen werden, die fortan handeln und verhandelt werden. Damit jedoch gefeiert werden kann, fegen fünf Männer den Schmutz von der Bühne. Sauber wird die Geschichte dadurch nicht. Was kann man wissen, was glauben? Ist glauben ein Glück oder eine Gefahr? Die Antworten auf diese Fragen bescheren rundum geglückte Theatererlebnisse.
Bevor der dramatische Wahnsinn beginnt, darf das Publikum Tränen lachen. Lina Beckmann karikiert zwischendurch eine Weinprobe in bester Kabarettmanier. Menschen in den ersten Reihen können an der Verkostung teilnehmen. Und kommen mit dem Traubensaft im Mund dem Gott des Weins schon recht nahe. Damit ist der Spaß mit dieser wahnsinnig guten Schauspielerin zu Ende. Jetzt hat der Wahnsinn freie Bahn.

Das Bild zeigt von links: Mehmet Ateşçi, Kristof Van Boven, Maximilian Scheidt, Lina Beckmann, Carlo Ljubek
Für den sorgt Dionysos. Der Zeussohn, den Carlo Ljubek als coolen, lässig über den Dingen stehenden Typen zeichnet, hat mit den Bewohnern Thebens ein Hühnchen zu rupfen, weil sie ihm nicht angemessen gehuldigt haben. Deren Herrscher Pentheus will sich von dem Gott indes auch nicht in die Suppe spucken lassen. Er ist der Chef. Ihn gibt Kristov Van Boven hoch zu Roß (der Schimmel heißt Sam) mit machohafter Arroganz.
Dass die Frauen der Stadt tief im Wald völlig außer Rand sich selbst feiern, geht gar nicht. Sehen möchte er das dennoch. Da hätte er wohl besser auf die Prophezeihung des blinden Sehers Teiresias (Michael Wittenborn) gehört, statt dessen Blindenstock zu zerbrechen. Damit tappt er dem Gott in die Falle, der das alles just zu diesem Zwecke arrangiert hat. Die wilden Weiber entdecken den betrunkenen Voyeur hoch auf einem Baum und zerfleischen ihn.
Aus dem Wahn erwacht, erkennt Agaue, dass der Löwenkopf, den sie angeschleift hat, der ihres Gatten ist. Dessen restliche fleischlichen Überbleibsel sortiert sie manisch in Kübel. Symbolisch: Alles im Eimer. Lina Beckmanns Körpersprache verrät in jeder Faser ratlose Verzweiflung. Die lustvolle Kabarettistin zeigt ihr Format als große Tragödiendarstellerin.
Dionysos liebt nicht nur den Wein und die Ekstase; er lärmt auch gerne. Diesen Part übernimmt mit durchschlagender perkussiver Partitur die brillante Trommlertruppe „Taiko“. Nach so viel Bühnenwahnsinn tobt der Beifallssturm durch das ausverkaufte Haus.
Info: Über die weiteren Aufführungen wird auf dieser website noch berichtet.