Unterwegs in die Wirklichkeit Empfehlung
- geschrieben von -uss
- Schriftgröße Schriftgröße verkleinern Schrift vergrößern
- Gelesen 213 mal
Geht das? Eine bitterböse, ätzend scharf beobachtende Erzählung über die gesellschaftlichen Verhältnisse mit Puppen auf den Punkt zu bringen? Es geht.
Das haben der Figurenspieler Sebastian Kautz und der Musiker Gero John vom Theater Cipolla aus Bremen mit Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ im neuen Globe in Schwäbisch Hall jetzt wirkungsvoll gezeigt.
Ganz leise beginnt dieses Spiel. Mit langsamen, geschmeidigen Bewegungen schlüpfen die beiden Männer in die Geschichte eines namenlosen Beamten hinein, der überraschend zu ein wenig Geld gekommen ist. Es reicht, um den ungeliebten Job aufzugeben und sich aus der Welt, die er nicht mag, in ein Kellerloch zurückzuziehen. Dort ist er frei von allen Verpflichtungen, kann tun und lassen, was er will. Doch was will er. Im Prinzip immer das Gegenteil von dem, was ihm begegnet. Im Prinzip? Tatsächlich will er sich prinzipiell verweigernd immer dabei sein. Ein aufgeblasener TypE und durch und durch in sich zerrissene Figur.
Melanie Kuhl hat für diesen Misanthropen ein prägnantes Haupt geschaffen, das einem mit den tiefen dunklen Falten in dem wächsernen Gesicht und dem schütteren Haar nicht mehr aus dem Kopf geht. Zumal ihn Sebastian Kautz einem stimmlich sehr nahe bringt. Immer wieder ist er auch Gesprächspartner seiner Puppe, die ihn abwatscht und demütigt. Er muss herhalten für das, was ihr permanent geschieht.
Gero John haut ausnahmsweise in die Tasten einer alten Schreibmaschine, statt Cello und Keyboard zu bedienen.
Mannhaft legt sie sich einem Offizier in den Weg. Gestiefelt und gespornt stolziert dieser in Gestalt von Gero John über die Bühne. Er nimmt den Pseudorebellen überhaupt nicht wahr. Schlimmer noch. Er schneidet einer weiblichen Puppe den Kopf ab. Ein Sakrileg im Puppenspiel schlechthin. Hier wird nicht gezaudert, sondern gezaubert. Per Operation entsteht eine Maus. Wenig später haucht sie in ihrem eigenen Kellerloch ihr Leben aus. Nicht zu vergessen; der Biberpelzkragen um den Hals des Offiziers verwandelt sich in einen echten Biber, der gleich zu dessen verbalem Gegenspieler wird.
Die Einladung zu einem Klassentreffen entwickelt sich zu einer der wirkungsvollsten Szenen. Soll er hingehen? Soll er sich dem Spott seiner einstigen Mitschüler aussetzen, die als honorige Stützen der Gesellschaft aus Bierkrügen auftauchen. „Ich werde sitzen und trinken“ wiederholt er wie ein sein Selbst stabilisierendes Mantra. Der Typ ist steigerungsfähig. „Ich nehme alles Leid dieer Welt auf mich“ verkündet er - einschließlich sein eigenes, darf man hinzufügen. Worauf Gero John ihn in der Manier eines Gekreuzigten am Kellerloch befestigt.
„So sieht er also aus, der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit“. Für die auf der Bühne, für Dostojewski, für das Publikum. Bevor jedoch die Melancholie in pure Verzweiflung umschlägt, trifft der vom Leben enttäuschte Exbeamte auf eine barbusige Frau. Sie macht ihn rund, haut ihm seine Lebenslüge um die Ohren, („Sie sind doch überhaupt nicht fähig zu lieben“), bis er endlich klar sieht. Sein Puppenkopf sinkt an ihren Hals. Die Welt hat ihn wieder. Merke: Ohne weibliche Intuition wird das nichts mit den Männern. Viel Beifall für diese prägnanten Puppen und die Männer hinter ihnen.
Wolfgang Nußbaumer
(28.11.2024)