„Kleiner Mann“ - ganz groß Empfehlung

Andreas Döhler und Pauline Knef belauern sich. Andreas Döhler und Pauline Knef belauern sich. Foto: Just Loomis

Wenn Frank Castorf inszeniert, muss die Theatermaschinerie Schwerstarbeit leisten. Sein Personal sowieso. In seiner Dramatisierung von Hans Falladas Roman „Kleiner Mann - was nun?“ am Berliner Ensemble geschlagene fünf Stunden lang.

   Außerdem hat er noch einen autofiktionalen Text des Autors und einen von Heiner Müller dazu gepackt: „Die Schlacht“, einschließlich dessen handfester Umsetzung.Letztere trifft die Grundstimmung dieser vielschichtigen Erzählung exakt. Denn Pinneberg und Lämmchen, das junge Paar, das nichts als sein kleines privates Glück sucht, stehen von Anfang an auf der Verliererstraße. Denn die Verhältnisse, sie sind nicht so. Symbolträchtig reißt das Ensemble einen roten Vorhang herunter. Hier wird nichts vertuscht. Dafür sorgen schon die starken Frauen. Wenn Pauline Knof ausrastet, wird aus dem Lämmchen ein wild gewordener Schafbock. Wandlungsfähig sind sie alle, die sich dort analog auf der Bühne von Aleksandar Denic und auf zwei großen Videoleinwänden tummeln. Einschließlich einer Erinnerung an Zarah Leander.

   Der Moloch Berlin schickt sich an, das Pärchen vom Lande zu verschlingen. Im Großstadtgetriebe lauert die individuelle Einsamkeit, warten Verletzung und Verletzlichkeit. Frank Castorf schreibt dazu im Programmheft: „Pinneberg verkörpert die Symbolfigur dieses Angestelltentypus (wie ihn Siegfried Kracauer 1930 in seiner soziologischen Studie „Die Angestellten“ beschrieben hat; red.), der nicht mehr Bourgeois ist, aber auch nicht werden wird, was er gerne möchte. Er ist geistig obdachlos, er wird zerrieben.“ Wie Kracauer in seinen Schriften taucht auch der Regisseur in dieser Inszenierung in die Welt in ihrer ganzen Vieldimensionalität ein. Er reflektiert dabei auch unsere von Krisen geschüttelte Gegenwart.

   Ohne bewegte Bilder geht’s bei Castorf nicht. Live und aufgezeichnet. Live muss Artemis Chalkidou einiges mitmachen. Nackt irrt und flüchtet sie durch die Unterbühne des Theaters, wo noch Räder von Panzern der Roten Armee lagern, füllt eine Waschmaschine und sucht Zuflucht in einer Dusche als total verängstigte, vom Morphium abhängige Kreatur. Neben ihr setzt sich ihr Kumpel in Gestalt des blutverschmierten Andreas Döhler die Drogenspritze. Später wartet sie in einer Schwarzweiß-Sequenz mit anderen in einem Keller auf das Kriegsende. Doch bevor der russische Befreier die Treppen herunterkommt, erscheinen dort zwei SS-Leute und erschießen den Mann, der, angestiftet von den Frauen im Keller, ein weißes Tuch als Zeichen des Friedens hissen soll. Auch einer, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet.

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Ganz schrill im Tanz: (v.l.) Jonathan Kempf, Pauline Knof, Artemis Chalkidou und Maximilian Diehle.                         (Foto: Jörg Brüggemann)

   

Pinneberg kriegt einen Job als Verkäufer in einem Kaufhaus. Die Umsatzvorgaben, die er auf Geheiß des knallharten Geschäftsführers (Jonathan Kempf) erfüllen soll, sind unerreichbar. Wieder steht er auf der Straße, wo er sich doch um das Murkelchen, das gemeinsame Baby kümmern muss. Mit seinem kleinbürgerlichen Habitus ist er bei Lämmchens Vater, einem überzeugten Proletarier, gleich unten durch. Ein Verlierer ohne Perspektive. Der großgewachsene, extrem schlanke Maximilian Diehle lässt ihn mit stechendem Blick durch diese Welt taumeln, die er nicht versteht. Eine Welt, die in Castorfs Sicht mal still innehält, um einen Augenblick später in greller Lautstärke und irrlichterndem Tanzgewitter mit Maeve Metelka als weiterer Lämmchen-Darstellerin vorneweg über das Publikum herzufallen.

   Eine nachdenkliche Zäsur setzt Andreas Döhler. Als Hans Fallada wirft er in dem Text „Die Kuh, der Schuh, dann du“, den dieser in der Psychiatrie verfasst hat, einen aufschlussreichen Blick in das Innenleben des Schriftstellers. Seine Vita spiegelt sich in Teilen im Stück wider. Dann geht das bedrohlich muntere Treiben mit permanentem Rollentausch auf der Bühne weiter. Gabriel Schneider fügt eine weitere nachdenkliche Facette in der Suche von Pinneberg und Lämmchen nach dem kleinen Glück hinzu. Keiner bleibt ohne Schuld; alle sitzen im selben Boot. Jeder ist der andere. Oder könnte es zumindest sein. Ein verwirrendes Kaleidoskop ganz unterschiedlicher Charaktere. Mit Bildern, die in Erinnerung bleiben. Und ein Ensemble, das zusammen mit den Menschen hinter der Live-Kamera in jeder Hinsicht bravourös agiert.

   Info: Nächste Aufführung am Samstag, 14. Dezember, 18 Uhr; www.berliner-ensemble.de 

        

Wolfgang Nußbaumer

(24.11.2024)   

      

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