Erfrischendes Ja zum Leben Empfehlung

Während die Nonne Susanna (Caroline Melzer) mit sich ringt, schmusen Jasko Fide und Netti Nüganen unbekümmert miteinander. Während die Nonne Susanna (Caroline Melzer) mit sich ringt, schmusen Jasko Fide und Netti Nüganen unbekümmert miteinander. Fotos: Matthias Baus

Kein Mann auf der Bühne der Staatsoper Stuttgart. Ausschließlich Frauen. Alle nackt bis auf die Sängerinnen des Opernchores.

   In ihren Nonnenkutten bilden sie in dieser kühnen Messfeier „Sancta“ den Gegenentwurf zur textilfreien Truppe von Regisseurin Florentina Holzinger. Diese inszeniert eine furiose Oper-Performance über weibliche Selbstbestimmung, Selbstbehauptung und Solidarität auf der Basis von Lust und Schmerz. Frauenpower in extremster, mitreißendster Form.

   Als roter Faden für diese Auseinandersetzung mit der fast 2000 Jahre währenden Geschichte der katholischen Kirche dienen die Elemente einer Hl. Messe mit Schuldbekenntnis, Kyrie, Gloria, Glaubensbekenntnis und Eucharistiefeier mit Sanctus und Kommunion. Daraus zimmert das Ensemble jedoch keine Persiflage auf eine männlich bestimmte Institution. Eher spielerisch deklinieren die nackten Frauen durch, wie diese Kirche aussähe, wenn sie nicht von den Herren der Schöpfung dominiert würde. Dafür hat sich die Regisseurin, die auch für die aufwändige Choreografie verantwortlich ist, einiges einfallen lassen. Das Zwiegespräch zweier Nonnen - Susanna und Klementia -  über Schuld und Sühne, Gott und die Welt, Begehren und Gehorsam kontrastiert sie mit zwei Frauen, die im Hintergrund intensiv Sex haben. „Nehmt euch die Freiheit, sonst kommt sie nie“, könnte man dazu Wolf Biermann singen hören.

   Die Musik zum munteren Bühnentreiben haben indes andere beigesteuert. Paul Hindemith ist mit seiner Oper „Sancta Susanna“ vertreten, in der die Nonne Beata eingemauert wird, weil sie völlig nackt den Heiland am Kruzifix umarmt hat. Dieses Mauerwerk wird natürlich wenig später von Beata gesprengt. Der Freiheit eine Gasse. Mess-Sätze von Johann Sebastian Bach, Sergej Rachmaninow und Charles Gounod hat Johanna Doderer arrangiert. Marit Strindlund interpretiert sie mit dem Staatsorchester als energetisch pulsierenden Mahlstrom. Dazu kommen weitere zum Teil schrille, atonale und dissonante Kompositionen und Arrangements auch aus den Reihen der „Sancta“-Truppe. Nicht zu vergessen, die direkt auf der Bühne produzierte Musik.

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Florentina Holzinger (v.l.), Sara Lancerio und Netti Nüganen haben Spaß in der Halfpipe.

   Wo anfangen mit der Beschreibung zwischen der Mauer der Sixtinischen Kapelle, an der nackte Frauen hochklettern und der Halfpipe, in der weitere Frauen auf Rollschuhen und Inlineskates akrobatisch herumturnen. Sie alle haben nichts zu verbergen; sie sind, wie sie sind, Kleine und Große, schlanke, queere, dicke und dünne. Und eine ganz kleine. Als Papst verkleidet. ordnet sie an einem Roboterarm hängend die Zerstörung der Sixtinischen Kapelle an, in der sich umgehend Risse bilden. Kunstblutbäche ergießen sich von oben über die Leiber unten. Ziemlich symbolträchtig das Ganze.

   Weniger symbolbehaftet als schmerzhaft anzusehen für das Publikum sind zwei Performerinnen. Die an langen Seilen über die Bühne schwingen. Schmerzhaft deshalb, weil man zuvor über zwei Videowände an der Prozedur teilnehmen darf, wie vier Scharniere in zwei Rücken implantiert werden. Schwache Gemüter sehen da besser weg. Genau hinsehen lohnt sich wiederum, wenn zum letzten Abendmahl eine Teilnehmerin diverse Flaschen Rotwein auf den Tisch zaubert. Das Wein zu Blut und Brot zu Fleisch wird, gehört ebenfalls zum Ritual. Ist Magie. Das bisschen Fleisch ist zuvor einer Frau auf der Bühne herausgeschnitten worden. Wer bei Frau Holzinger mitspielen will, muss einiges aushalten können.

   Zwischendurch wird eine rote Wimpelschlange durch die Publikumsreihen gezogen, um es sozusagen zum Teil des Ganzen zu machen. Jesus tritt - entsprechend als männliches Wesen ausstaffiert - auch noch zu einer frischfidelen Ansprache zwischen die Sitze. Ein bisschen Spaß muss sein. Ohnehin gluckst es im Publikum im ausverkauften Haus immer wieder vergnügt. Man freut sich an den mitunter rauen Pointen. Zum Beispiel wenn der Minipapst am Roboterarm rotiert. Nein, diese Performance macht sich über nichts lustig. Sie stellt in Frage, schlägt Alternativen vor und behauptet vor allem eines: Wer die Lust am Leib, am Leben leugnet, hat sich bereits von einem erfüllten Leben verabschiedet.

   Info: Wer „Sancta“ bis jetzt nicht erlebt hat, muss nicht enttäuscht sein. Die Performance wird in der nächsten Spielzeit an der Staatsoper wieder aufgenommen.

    

     Wolfgang Nußbaumer          

      (07.11.2024)

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