Alptraum in der Neuen Welt Empfehlung

Eng beieinander (v.l.n.r.) Peer Oscar Musinowski (Pollunder), David Müller (Karl Roßmann), Michael Stiller (Onkel), Celina Rongen (Dienstmädchen), Therese Dörr (Green). Eng beieinander (v.l.n.r.) Peer Oscar Musinowski (Pollunder), David Müller (Karl Roßmann), Michael Stiller (Onkel), Celina Rongen (Dienstmädchen), Therese Dörr (Green). Fotos: Thomas Aurin

Franz Kafka war nie in Amerika. Hingeträumt in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat er sich schon. In einem grotesken Alptraum, den jetzt Viktor Bodó am Schauspiel Stuttgart brillant inszeniert hat.

   Das heißt mit sicherem Gespür für die zahlreichen Untiefen des Romanfragments „Amerika“. Auf der von Zita Schnábel gestalteten leicht ansteigenden weißen Bühne stehen schwarze Schreibtische. Auf jedem eine Lampe und eine alte Schreibmaschine. Zu ihnen begeben sich nach und nach die in grau und schwarz gekleideten Angestellten. Ihre Körpersprache dabei zu lesen, ist schon ein Vergnügen. Zögerlich, selbstbewusst, verhuscht, beiläufig wie man halt so kommt, misstrauisch, angewidert - hier wird schon aufgeblättert, was einen in den nächsten zwei Stunden erwarten wird.

   Das kostet natürlich Zeit. In verwirrender Ziffernfolge angezeigt auf einer kleinen Leinwand im Hintergrund. Das weiß auch der Büroleiter, der ganz oben an seinem Schreibtisch sitzt. Er versammelt die Belegschaft in einer kurzen „Pause“ an der Bühnenrampe. Und es geschieht - nichts. Karl fehlt. Er träumt in den Zuschauerrängen. Wo denn sonst. Dem Fixpunkt aller Theaterträume. Begännen sie jetzt zu singen, fühlte man sich an eine Inszenierung von Christoph Marthaler erinnert. Da wird es der Souffleuse zu bunt. Sie donnert das Manuskript auf die Bühne. Einen Sekundenbruchteil später stimmt das Ensemble ein volltönendes „A“ an. Umwerfend komisch. Wie der Chor muss Karl Roßmann zu allem, was er machen soll - und manchmal will - in Bewegung gehalten werden.

   Man ist gut vorbereitet auf die Reise über den großen Teich, die man alsbald antritt, nachdem der Bursche Karl, der noch kein Herr ist, aber ein Dienstmädchen geschwängert hat, ein Päckchen aus Amerika erhalten hat. Es enthält eine Freiheitsstatue mit Schwert, nicht mit Fackel. Sofort tritt er die Reise an; Gelegenheit für den Regisseur, die Bühnenmaschinerie wieder anzuwerfen. Üppige Gischtwolken um schwebende Schreibtische gaukeln Seegang vor. Üppig eingepackt von der Ausstatterin Dóra Pattantyus auch die Superkapitalisten Pollunder und Green, die sich gegen den Willen seines reichen Onkels Jakob seiner annehmen. Woraufhin ihn dieser gleich wieder verstößt.

   Kaum angekommen, beginnt der unaufhaltsame Abstieg des jungen Mannes aus Europa. Er tritt auf unbekanntem Terrain von einem Fettnäpfchen ins andere; gelangt vom Regen in die Traufe, weil er als Gutmensch zu hilfsbereit und zu vertrauensselig ist. Das hat ihn schon auf dem Schiff in die Bredouille gebracht, wo er sich für einen ausgebeuteten Heizer eingesetzt hat. Zwei Landstreicher (Delamarche und Robinson) nehmen ihn aus. Davor bewahrt ihn auch ein Dienstmädchen nicht, das in der Pose eines Bodybuilders dauernd um im herumschleicht.

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   „Die Stimmung ist kafkaesk“, stellt ein Erzähler fest, der die einzelne Szenen ankündigt. Wie wahr. Ohnehin die Frauen. Pollunders Tochter Clara schlägt ihn mit einer Peitsche zusammen, weil er nicht so will, wie sie es will. Mit einer Oberköchin im Hotel „Occidental“ und deren Sekretärin herrscht so lange Einvernehmen, bis er seinen Job als Liftboy verliert, weil er sich um den schwer betrunkenen Robinson kümmert. Schließlich landet er als Diener bei der exaltierten Sängerin Brunelda, die sich von dem schnöseligen Delamarche in einer Badewanne waschen lässt. Bis beide zusammen absaufen und die Wanne heftig dampfend im Bühnenboden verschwindet.

   Man kommt nicht umhin, diese Szenen zu beschreiben, weil sie in ihrer grotesken Ausformung die Intention der Inszenierung wesentlich bestimmen: Das Leben als absurdes Theater zu zeigen. Eine Comédie humaine, unter der die Tragödie grinst. Bis zum Schluss. Karl und ein Student reden unisono aneinander vorbei. Und als der junge Mann seine letzte Hoffnung in eine Arbeit beim Naturtheater „Oklahama“ (in Kafkas Schreibweise) setzt, muss er zuerst einen dicken Stapel Formulare ausfüllen. Das Bürokratiemonster hat zugeschlagen. Schwamm drüber. Während die Bühnenarbeiter die Spielstätte abbrechen, präsentiert sich das Ensemble im Scheinwerferlicht nebenan noch als Rockband. Bevor der Erzähler im schwindenden Licht das letzte Wort hat.

   Abspann im Geiste des Lichtspielfans Kafka. Auf dem Bühnenvorhang laufen die Namen aller Beteiligten von unten nach oben. Ganz großes Kino. Mitgespielt haben in diversen Rollen Therese Dörr, Teresa Annina Korfmacher, Simon Löcker, Reinhard Mahlberg, Marco Nassafra, Marietta Meguid, Peer Oscar Musinowski, David Müller (als Karl Roßmann), Celina Rongen und Michael Stiller.

   Info: Nächste Aufführungen Freitag, 31. Mai; Montag, 3. Juni, jeweils 19.30 Uhr; www.schauspiel-stuttgart.de

 

Wolfgang Nußbaumer

(19.05.2024)

             

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