Im Bann der Begegnungen Empfehlung

Eva (Paula Skorupa) im Gespräch mit Libby (Camille Dombrowsky), die deren Tagebuch in der Hand hält. Oben Max Braun, der für die Musik sorgt. Eva (Paula Skorupa) im Gespräch mit Libby (Camille Dombrowsky), die deren Tagebuch in der Hand hält. Oben Max Braun, der für die Musik sorgt. Fotos:m Katrin Ribbe

Die Bedrohung ist allgegenwärtig. Als sich der Vorhang im Stuttgarter Schauspiel öffnet, fährt eine riesige graue Betonwand auf das Publikum zu. Stoppt erst kurz vor der Rampe.

   Regisseur Stephan Kimmig weiß, wie man Bühnentechnik sinnstiftend und das spielende Personal optimal einsetzt. Weshalb die Uraufführung von Joshua Sobols vielschichtigem Schauspiel „Der große Wind der Zeit“ eine Theatersternstunde beschert.

   Vor der grauen Wand, die unschwer als Gefängnismauer zu deuten ist, treffen die junge jüdische Verhörspezialistin Libby und der palästinensische Insasse Adib aufeinander. Das Verhör entwickelt sich zum Gespräch über Krieg und Frieden, Schuld und Gerechtigkeit und zum Einstieg in eine klippenreiche Odyssee in die Vergangenheit. Zuvor stellt sich heraus, dass Adib kein Terrorist ist, sondern ein intellektueller Historiker, der auf dem Weg nach London war, als er festgenommen wurde.

   Libby hat den immer gleichen Verhörjob satt und kehrt nach Hause zurück. Auch kein behaglicher Ort, wie man sieht, als sich der von Katja Haß gestaltete Betonklotz auf der Drehbühne in das weiße Gerippe eines Wohnhauses verwandelt. Mit einem schrägen Abgang, auf dem Eva in die Bühnengegenwart rutschen wird. Alles transparent, klar, durchsichtig, ist man geneigt zu vermuten. Nichts davon tritt ein; alles ist Schau und Raum. Und zugleich Spielraum für ein fantastisches Ensemble. In dessen Zentrum Camille Dombrowsky als Libby und Paula Skorupa als Eva, ihre Urgroßmutter. Geballte Frauenpower. 

   Auf der Bühne tritt Eva langsam wie ein Schatten hinter ihre Urenkelin. Gegenwart und ferne Vergangenheit verschmelzen miteinander. Einst im Kibbuz haben die jungen Leute die Freiheit von allen gesellschaftlichen Zwängen genossen. Jede ist mit jedem in dem Sextett ins Bett gegangen. Kein Modell von Dauer. Eva will Ausdruckstänzerin werden, geht in das von Leben berstende Berlin, taucht ein in die Theaterszene um Bertolt Brecht, wird mit dem Nationalsozialismus konfrontiert und geht nach Israel zurück, um als Scharfschützin gegen die Palästinenser zu kämpfen. Zurückgelassen hat sie ihren zweijährigen Sohn Dave.

   All das erfährt Libby aus Evas Tagebuch, das sie bei ihrem Großvater Dave findet, während der alte Haudegen auf seiner Harley durch das Land düst. Genau genommen, erzählt er nur davon, während er (Sebastian Röhrle) unter seinem Videogesicht an dem grauen Beton lehnt. Ein sich selbst überlassener Mensch in einem verworfenen, verlassenen Land, wie er feststellt.

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Eva (Paula Skorupa) begegnet ihrem Sohn Dave (Sebastian Röhrle).

 

    Gehandelt wird in dieser Dramatisierung kaum. Mit einer auf alle Nerven zielenden Ausnahme. Dem Tanz der Eva zur Live-Gitarre von Max Braun. Alles vibriert ekstatisch an Paula Skorupa im knöchellangen engen weißen Kleid. Parkinson als Tanzform. Verhandelt dagegen wird umso mehr. Die Sprache bringt im Rückblick alles an den Tag. Den Mut, die Kraft und die Intuition, die Libby und Eva verbindet, sie „eins“ macht, um alle Facetten ihrer Geschichte(n) auszuleuchten.

   Die Kraft gibt für die unterschiedlichsten Begegnungen. Wie jene mit dem faschistischen Architekturstudenten (David Müller), der Eva unmittelbar vor der ersten Sitzreihe mit Beleidigungen überzieht, als sie ihm lächelnd ihr Judentum offenbart. Da treiben zwei zum Frösteln mit dem Entsetzen Spott. Und der Ort bedeutet den direkten Bezug zu den Zuschauerinnen und Zuschauern. Ganz im Sinne von Joshua Sobol. Dieser wünscht sich von dieser Aufführung, wie er in einem Interview wissen lässt, „dass das Publikum (…) die Lust verspürt, das zu hinterfragen, was es für gegeben hält, und Spaß daran hat, bequeme Narrative auszuhöhlen.“

   Nein, es mangelt dieser Inszenierung nicht an Ironie; weder en detail noch in der historischen Dimension. So lehnen Evas wohlsituierte Eltern es trotz des massiven Drängens ihrer Tochter konsequent ab, ihr behagliches Wien zu verlassen, weil Hitler ohnehin nur eine historische Randerscheinung sei. So kann man sich irren.

   In den Begegnungen wird Geschichte real. Warum haben sich Libbys geliebter Großvater und seine palästinensische Partnerin getrennt? Weil er nicht auf die Sicherheit des jüdischen Territoriums verzichten wollte, auf die Macht; weil ihm ein Leben in einem verworfenen Land zu riskant erschienen ist. Das wird deutlich, als seine Enkelin ein Treffen mit seiner einstigen Geliebten Jamila arrangiert. Sebastian Röhrle und Therese Dörr gestalten diese Szene unter die Haut gehend. Alle persönlichen Lügen strecken vor der Wahrheit, von der es nur eine geben kann, die Waffen. Langsam reicht Jamila Dave die Hand; eine Geste, mit der sich im Schlussbild das gesamte Ensemble (darunter noch Teresa Annina Korfmacher, Gábor Biedermann und Tim Bülow in diversen Rollen) dem Publikum zuwendet. Ein ebenso berührender stummer Appell, das Miteinander zu versuchen. 

   Info: Nächste Aufführungen am Donnerstag, 18. April, und Sonntag, 2. Juni, jeweils 19.30 Uhr. Karten unter 0711/ 202090 und www.schauspiel-stuttgart.de 

Wolfgang Nußbaumer

          

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