Endstation Tod Empfehlung
- geschrieben von -uss
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„Was, wenn etwas Perfektes passiert wäre?“, fragt sich der vor kurzem aus dem Knast entlassene Matheus in Simon Stephens‘ Stück „Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau“. „Was, wenn ich etwas Perfektes verpasst hätte?“
Wer Elmar Goerdens Inszenierung im Kammertheater des Schauspiels Stuttgart nicht gesehen hat, oder nicht sehen wird, hat etwas Perfektes verpasst. Was für eine hohe Kunst, einen Text zu dramatisieren, in dem alle mehr oder weniger in kunstloser Alltagssprache aneinander vorbeireden; in dem Pathos und Visionen ständig mit Banalem gekontert werden. Ein Text, der im Grunde ein einziger innerer Monolog ist. Mit einem bemerkenswerten musikalischen Grundmuster. Soli und Tutti, Adagio und Allegro prägen ihn. Nicht von ungefähr; der Autor spielt Bass. In „Reihe 5“, dem Magazin der Staatstheater Stuttgart, verrät er, dass er gerne mal mit der australischen Rockband „Bad Seeds“ gespielt hätte. Kein „hätte“ hingegen mit dem Stück. Um Fakten der schwäbischen Metropole zu sammeln, hat er Stuttgart gründlich durchstreift. Bis hinauf auf den Kriegstrümmerberg „Monte Scherbelino“.
Die Vorstellung, sich einen Wunsch zu erfüllen, schwingt durch das Stück wie das große, massive Rechteck, das die von Silvia Merlo und Ulf Stengl gestaltete Bühne dominiert. Nichts ist stabil! Requisiten gibt es nicht. Kochen, essen, trinken die Protagonisten, oder schweigen sich an, informiert darüber ein Schriftband mit Stuttgarter Bezügen auf der schwarzen Leinwand im Hintergrund. Hier regiert das Wort, sonst nichts. Immer ist es präsent. Selbst wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler nach ihren Auftritten auf Bänken neben der Spielstätte Platz nehmen, und sich von dort in das Geschehen einmischen.
Zurück zum Grundmuster. Zu lauter Musik tritt das zehnköpfige Ensemble auf die Bühne. Dann setzen sich alle bis auf Christof und Nicola auf die Bänke. Christof ist Anfang 20, an Krebs erkrankt und hat nur noch einen einzigen Tag zu leben. Nicola ist seine Freundin. Ihr Freund kann nicht mehr reden, seine Augen sind geschlossen. Deshalb stellt sie sich vor, was er tun oder sagen würde - und spinnt diesen Faden fort. Die Perspektiven sind miserabel, die Ironie umso besser. Sonst wäre dieser Blick auf den Menschen nicht auszuhalten.
Denn in ihren Monologen und Dialogen offenbaren alle bis auf dieses Paar ihre Abgründe, Sorgen und Nöte. Am bewegendsten Christofs Vater Walter. Wie Klaus Rodewald dessen Ängste und Obsessionen bekennt, ganz Haltung, ganz schonungslos, geht tief unter die Haut. Und dann diese Lebensbeichte mit der selbstgefälligen Feststellung bricht, „aber, ich glaube, ich bin bei Porsche ein guter Verkäufer“. Förmlich mitleiden muss man mit dem fantastischen Matthias Leja, wenn er den pädophilen Matheus seine Neigung aus dem deutlich sprechenden Körper herauszukratzen trachtet, die Hände gegen den Kopf schlägt, weil er nicht begreifen kann, dass er durch das lustvolle Betrachten nackter Kinder („solche Schönheit“) „das schlimmstmögliche Verbrechen“ begangen haben soll.
Karl (Boris Burgstaller), Matheus (Matthias Leja) und Lukas (Gábor Biedermann) im Gespräch über das Essen und das Leben an sich.
Weitere Paarkonstellationen bilden Therese Dörr als nervös-verhuschte dauerrauchende Deutschlehrerin Marie und der Student der Religionsphilosophie Tomas (Simon Löcker), der herauszufinden sucht, ob er an Gott glaubt oder nicht. Das Geschwisterpaar Karolina (Teresa Annina Korfmacher) und Benjamin (Tim Bülow) sowie der Polizist Lukas und der aufdringliche Karl runden die Besetzung ab. Gábor Biedermann lässt die selbstbewusste Arroganz des Hauptkommissars abblättern, als er sich um seine Tochter sorgt, die nicht mehr ans Telefon geht. Dessen zunehmende Verzweiflung registrierend wird der auf schrill getrimmte Boris Burgstaller ganz sanft. Behutsam legt er dem Hausnachbarn schützend seinen Mantel um. Eine dieser Schlüsselszenen, die den Plot in eine optimistische Dystopie verwandeln.
Der Tag geht zu Ende, der Tod naht. Zeit zu einem letzten wilden Tanz des ganzen Ensembles mit der zarten Camille Dombrowsky als mal kämpferische, mal verzagte, doch immer authentische Nicola und Felix Jordan, der den kranken Christof mit einer kräftigen Portion Sarkasmus als vitalen Typen gezeichnet hat. Mitten im Tanz springt er durch das schwankende Rechteck, während auf der schwarzen Leinwand eine helle Fläche (seine Seele?) allmählich verschwindet. Kurz verharrt das Ensemble noch wie zu einem stillen Gedenken; dann darf das Publikum seinem Jubel über diese rundum gelungene Uraufführung lautstark Luft verschaffen.
Info: Weitere Aufführungen am Mittwoch, 10., Donnerstag, 11., Montag, 15., und Donnerstag, 18. Januar; Karten unter www.schauspiel-stuttgart.de
Wolfgang Nußbaumer
(08.01.2024)