Wo alles Mögliche möglich ist Empfehlung

Fräulein Schneider (Anke Schubert) und Herr Schultz (Michael Stiller) wagen zusammen ein Tänzchen. Fräulein Schneider (Anke Schubert) und Herr Schultz (Michael Stiller) wagen zusammen ein Tänzchen. Fotos: Toni Suter

Dieses Musical hat das Zeug zum Kultstück wie einst die „Linie 1“ an gleicher Stelle - der Bühne des Stuttgarter Schauspiels.

   Statt in der U-Bahn spielt „Cabaret“ im „Kit-Kat-Club“. Berlin ist in beiden Fällen die dramatische Reise wert.Im verruchten Club der „Roaring Twenties“ tanzt der Bär und noch mehr. Hier paaren sich Lebensgier und Hunger, Geld und Pragmatismus. Mit einem spielfreudigen Ensemble bravourös unter einen Hut gebracht von Calixto Bieito.

   Kein naives Mädchen vom Lande macht hier wie in der Erfolgsproduktion des Grips-Theaters seine Großstadterfahrung. Hier haben alle schon fast alles erfahren. Keine Chance für Illusion. Selbst der von Gábor Biedermann mit erwartungsvollem Staunen verkörperte Schriftsteller Clifford Bradshaw, für den der schwule britische Autor Christopher Isherwood Pate stand, muss seine Heiratspläne mit der Club-Ikone Sally aufgeben. Grell tanzt diese Revue auf dem in die Stuhlreihen hinein erweiterten Spielplatz mitten ins Publikum.  Angeführt von dem überragenden Elias Krischke als Conférencier. Angetrieben von John Kanders packender Musik, die der renommierte Pianist Nicholas Kok und seine Band im ersten Bühnenstock intonieren.

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Elias Krischke züngelt als Conférencier viel versprechend durch den Vorhang.

   Wie diese Sprechtheatertruppe, assistiert von der tollen Band, die gesanglichen Herausforderungen bewältigt, ist mehr als aller Ehren wert. Da können einem die Tränen kommen, wenn die Sally-Darstellerin Paula Skorupa in einem emotional hoch aufgeladenen Song ihr Schicksal beschreibt. Gleiches gilt für Anke Schubert. Als Fräulein Schneider zeigt sie bestes Diseusen-Format. Aus der geplanten Ehe mit dem Herrn Schultz wird übrigens ebenfalls nichts. Denn wäre sie mit einem jüdischen Gemüsehändler liiert, könnte ihre Zimmervermietung, mit der sie ihr Geld verdient, Schaden leiden. Schade drum. Gerät doch das zutrauliche Werben des Herrn Schultz in Gestalt von Michael Stiller um sie zu einem der vielen Hotspots dieser Inszenierung. Sie und Sally Bowles entscheiden sich für das Überleben in schwerer Zeit, wobei für den Revuestar der Club auch noch Heimat bedeutet. Hier ist sie wer. Ihr Kollege Bobby verwandelt strippend einen seriösen Anzugträger in eine Travestiefigur. Klaus Rodewalds Mut zur Hässlichkeit verdient neben seiner Kunstfertigkeit Bewunderung.

   In jeder Hinsicht fesselnd ist dieses Stuttgarter „Cabaret“ nicht nur wegen der Besetzung aus eigenem Personenfundus, sondern weil die Desillusion hinter jedem grellen Lacher lauert. Wie dem Lachen, mit dem Boris Burgstaller als Lena aus Essen (blendend Maske und Kostüme, Paula Klein) das Publikum aus dem ausverkauften Haus in die Pause entlässt. Behaupten kann man sich in jenen abgründigen Zeiten nur mit Selbstironie; sie packt die Selbstverleugnung in ein wenig Watte. Hilft jedoch nicht gegen die braune Gefahr, die in Gestalt des hinterhältig-jovialen Devisenschmugglers Ernst Ludwig auftaucht. Valentin Richter setzt ihn mit Hut und süffisantem Grinsen wirkungsvoll in Szene.

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Sally Bowles (Paula Skorupa) bleibt im Club illusionslos zurück. Ob es aus der Karriere als Schauspielerin noch etwas wird?

  

   Frisch, frech und fröhlich einschließlich Damenboxkampf, anzüglich und despektierlich entführt dieses Musical in eine bizarre, auch queere Welt, in der alles möglich war - für Geld. Deshalb verkauft sich Fräulein Kost (Marietta Meguid) an Matrosen, damit sie Fräulein Schneider ihr Logis bezahlen kann. Die sieht das gar nicht gerne, braucht aber die Kohle. Zuerst kommt eben das Fressen und dann die Moral.

   So grell das Musical beginnt, so still geht es zu Ende. Die Schauspielerinnen und Schauspieler ziehen zusammen mit den Tänzerinnen und Tänzern zwischen den Stühlen und Tischen des Clubs hindurch zum Hintereingang, durch den ein gleißend heller Scheinwerfer blendet. Ziehen sie ins Licht oder ins Feuer? Der Conférencier jedenfalls zieht einen Vorhang vor. Schluss! Und Zeit für das Publikum, lang zu applaudieren, nicht für einen gelungenen Bilderbogen aus der Weimarer Zeit, sondern für ein Plädoyer für die Freiheit des Individuums.

   Info: Weitere Vorstellungen Samstag, 8., Freitag, 14., Samstag, 15. April, 19.30 Uhr, Sonntag, 16. April, 18 Uhr. Karten unter 0711/202090, www.schauspiel-stuttgart.de 

 

Wolfgang Nußbaumer

(06.04.2023)      

          

        

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