Landschaft der Dichter
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Im bilderhaus Gschwend wird der Neckar als kulturelles Monument durchleuchtet, erhoben durch die Dichtung.
Im "bilderhaus" ist es literarisch mit dem Schwabenprogramm weitergegangen, auch wenn der Titel „Der Neckar“ dies auf den ersten Blick nicht vermuten lässt. Doch auf die richtige Fährte führte sogleich Dr. Jan Bürger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Marbacher Literaturarchiv, der 2013 ein Buch gleichen Titels geschrieben hat. Im Gespräch mit Dr. Tilman Krause, Feuilletonredakteur der „Welt“, spürten sie dieser einzigartigen Kulturlandschaft entlang des Neckars nach. Ein besonderes Erlebnis war der Abend dank der Rezitationen David Bennents, den Krause als ikonografisches Gesicht der deutschen Film- und Theaterszene vorstellte, auch wenn dieser erst in der zweiten Hälfte des Abends mit den zu rezitierenden Texten richtig warm wurde.
Als besonderes Erlebnis sollte sich auch für Tilman Krause die Einladung nach Gschwend erweisen, denn so konnte er am Nachmittag erstmalig Schlechtbach besuchen – sein Urgroßonkel, der Berliner Schauspieler Reinhold Köstlin, hatte 1935 nach seinem Rückzug von der Bühne die alte Sägemühle gekauft und in eine Künstlerkolonie verwandelt.
„Wie kommt man von der Biographie zum Fluss?“, lautete die erste Frage Krauses. Bürger verglich den Fluss zunächst mit einem Text, der eine Interpretation sei wie das fließende Gewässer auch, das nach vielen Umbauten mehr vom Menschen gemachte Kulturlandschaft als ursprüngliche Natur ist. So sei der im Vergleich zu Rhein oder Donau oft übersehene Neckar vor allem auch für die Industrialisierung wichtig gewesen. Zuvor wurde der Fluss, der mit seinen 376 Kilometern Länge nur an einer Stelle Baden-Württemberg verlässt, als unberechenbare Naturgewalt wahrgenommen, was an seinem Gefälle von über 600 Metern liegt. „Der Name Neckar soll keltischen Ursprungs sein und so viel wie ‚der Unbezähmbare‘ bedeuten“, untermauerte Bürger den Hinweis ethymologisch.
Bürger erkundet den Fluss zunächst mit dem Frachter „Hanna Krieger“. Dabei stößt er nicht nur auf einen industriellen Ballungsraum, sondern auch auf eine intellektuelle Verdichtung, „wie man sie ansonsten allenfalls aus Weltstädten kennt“. Die literarische Reise durch das Neckartal habe außerdem den Vorteil, die zeitliche Abfolge außer Acht lassen und dadurch andere Verknüpfungen und Bezüge herstellen zu können.
Wie gut es funktioniert, den Fluss als erzählerisches Muster zu nehmen, wird am Beispiel Tübingens deutlich, wo Friedrich Hölderlin seit rund 200 Jahren Kult ist. Bürger nähert sich ihm durch eine Beschreibung des Zeitgenossen Wilhelm Waiblingers, die Krause ob seiner psychologischen Feinfühligkeit lobt – ein „großes Zeugnis menschlicher Empathie“, das viel zu wenig bekannt sei. Auch Hesse wird mit einbezogen, wodurch die Frage aufkommt: „Was ist dran an dem Verhältnis Genie und Wahnsinn?“ Bürger verweist auf die extrem ausgebildete Sensibilität des Künstlers. Im glücklichen Fall entstehe ein großes Kunstwerk.
Auch an die „verdammt schwierige Frage“, warum es so viele geniale Literaten im Schwäbischen gibt, wagte man sich heran. Bürger bemühte die archaische Sprachdichte des Dialektes, der nahe am Mittelhochdeutschen sei. Außerdem bewege sich der Dialektsprecher in der Hochsprache und im Dialekt, was zu einer höheren Beweglichkeit führe. „Das haben Sie im Buch nicht geschrieben, Gott sei Dank!“, gab sich der Feuilletonredakteur mit diesem Versuch einer Antwort nicht zufrieden.
Das letzte Wort hatte Bennent, der zu guter Letzt „Der Neckar“ von Hölderlin zitierte: „In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf …“
Birgit Markert